Für mich, eines der Highlights auf
diesem Trip „Vom Riesengebirge durch den Süden Polens“. Die
Winterwanderung zur Elbequelle. Ein kleines Abenteuer. Wie sich im
Nachhinein herausstellt, sollte ich Recht behalten. Nur, das Ausmaß
war mir nicht bewusst.
Eigentlich hatten wir uns das ganz
einfach vorgestellt. Knappe 6km von Spindlermühle aus. Die Route
haben wir uns via Google Maps und Google Earth vorher schon zurecht
gelegt. Alles easy, dachten wir.
Der Tag ist angebrochen, ausgiebig
gefrühstückt, das Proviant für unterwegs ist fertig gepackt.
Irgendwie entschließen wir uns doch
noch das Touristeninformationszentrum im Ort aufzusuchen. Ein
Glücksfall, denn unsere Route ändert sich gravierend. Die
Mitarbeiter geben uns den Rat, die Elbequelle von der Spindlerbaude
aus anzusteuern. Knappe 10km, 9,5km sind es exakt. Aber leichtes
Terrain, nur geradeaus. Meine Strecke, sei extrem schwierig, es gehe
dauerhaft steil bergauf. Wir schauen uns kurz an. Unser Entschluss
steht.
Die Spindlerbaude ist nicht in
Spindlermühle gelegen. Nein nein, zehn Kilometer entfernt. Auf 1200m
über dem Meeresspiegel. Selbst mit dem Auto hinauffahren wollen wir
nicht, der Plan war den Weg von der Elbequelle direkt zurück nach
Spindlermühle zu nehmen. Glücklicherweise fuhr 20 Minuten später
ein Bus hinauf zur Spindlerbaude. 20 tschechische Kronen pro Nase
zahlen wir. Stetig geht es bergan, Serpentine um Serpentine,
teilweise über kleine und schmale Steinbrücken. Der Asphalt ist mit
einer leichten Schneeschicht überzogen. Mit einem Affenzahn steuert
der Fahrer mittleren Alters den Bus, manchmal mit einem Driften in
der Kurve. Da wird einem fast schwummrig. Das Klima wird immer
eisiger und frostiger. Die Äste
und Zweige der Nadelbäume sind gefroren, ein winziger Vorgeschmack
auf das, was kommt.
Nach einer
Viertelstunde sind wir an der Spindlerbaude angelangt. Wir sind
direkt an der tschechisch-polnischen Staatsgrenze. Heute ist es ein
modernes Vier-Sterne-Hotel mit Restaurant, das wohl keine Wünsche
übrig lässt. Das lässt auch die Natur nicht. Eine wahre
Winterwunderlandschaft. Fast eine Eislandschaft. Bei Minus fünf
Grad. Passende Kleidung schafft Abhilfe.
Nur welcher ist
der richtige Weg. Die Schilder sind allesamt nicht lesbar, von dicken
einer Eisschicht überzogen. Hilft nichts, wir fragen an der
Rezeption der Spindlerbaude nach. Die schauen uns entgeistert an.
Beinahe mit Unverständnis. „Immer geradeaus müssen Sie“, sagt
die freundliche Frau. Die Bemerkung, dass der Weg sehr schwer und
steinig wäre, kann sie sich nicht verkneifen. Juckt uns aber nicht.
Mit Tatendrang
ziehen wir los. Nicht einmal sicher, ob wir die 10km überhaupt
schaffen. Die Natur flasht uns, sie beflügelt uns. Einzigartig.
Den ersten
Kilometer geht es auf breitem Weg geradeaus. Keine Steigung. Nichts.
Aber wie gesagt, nur zu Beginn. Es ist der Kammweg des
Riesengebirges. Er verbindet Harrachov und Mala Upa von Ost nach
West. Ziemlich schnell endet das Flache. Das bedeutet Anstieg. Der
führt zur Petrovkou-Baude, Ein Jeep von der Nationalparkverwaltung
kommt uns entgegen, wir machen Platz. Sonst begegnet uns keine
Menschenseele. Jenseit jeglicher Zivilisation. Langsam arbeiten wir
uns voran, Schritt für Schritt. Ja nicht überpacen. Kräfte gut
einteilen, lautet die Devise. Von der steinernden Baude, die Türen
sind natürlich verschlossen, haben wir einen phänomenalen Blick
über das Riesengebirge, zur Ausgangsstation Spindlerbaude und der
zurückgelegten Strecke. Selbst de Schneekoppe ist bereits mit ihren
Konturen zu erbicken. Noch versteckt sich die Sonne hinter den Wolken
und dem leichten Nebel.
Nach wie vor
sind wir unsicher, ob wir auf dem richtigen Pfad der Tugend sind. Die
zwischenzeitlichen Hinweisschilder haben nie eine Elbequelle oder die
in der Nähe liegende Elbfallbaude ausgewiesen. Gar nichts. Jetzt
stehen wir ein wenig ratlos vor einer Kreuzung. Links den breiten
Verkehrsweg folgen, geradeaus den schmalen Pfad folgen oder
rechterhand die Abbiegung nehmen? Links. Das war der falsche. Shit
happens. Nach 300m kommen wir an der Moravska Baude heraus. Ein
Gasthaus mitten in der Natur, fernab vom Schuss. Das Licht brennt,
sie wird bewirtschaftet. Unser Glück. Wir fragen nach dem Weg,
können sogar noch eine Karte kaufen. Das haben wir gebraucht.
Mit großer
Abenteuerlust sind wir losgezogen. Vielleicht mit einem Schuss
Naivität. Jetzt sind wir eines besseren belehrt, allerdings froh,
dass wir nicht vorzeitig die Segeln streichen müssen.
Wir müssen zur
Kreuzung zurück, also den Berg hinauf und dann links abbiegen. Der
mittlere Weg ist der richtige. Der blauen Kennzeichnung müssen wir
folgen. Die Bradlerova Baude ist unser nächstes Zwischenziel. 2,5km
sind es dorthin. Aus dem breiten, ebenen Untergrund wird ein schmaler
und steiniger. Zwei Personen können unmöglich nebeneinander laufen.
So stampfen wir hintereinander im Gänsemarsch. Von einem Felsplateau
haben wir einen Blick über einen Teil des Riesengebirges. Die
Bradlerova Baude liegt direkt vor uns im Tal. Die Strecke zu ihr
führt uns bergab. Uns erschleicht eine Ahnung, dass wir auf der
anderen Seite wieder hinauf müssen. Den Gedanken verdrängen wir.
Zwanzig Minuten später sind wir an der Hütte. Im Moment ist sie
verlassen. Das Gasthaus ist nicht in Betrieb, lohnt sich scheinbar
nicht in den Wintermonaten.
Wir wundern uns,
immer noch ist nichts von einer Pramen Labe, dem tschechischen Name
der Elbequelle. Das so ein frequentiertes Wanderziel nicht
ausgeschildert ist. Sehr komisch.
Was uns vor
einiger Zeit bereits durch den Kopf schoss, wird nun Gewissheit. Es
geht bergauf. Stetig. Die nächsten drei bis vier Kilometer. Langsam
haben wir Halbzeit von der Halbzeit, die Kräfte schwinden, der
Tatendrang und die Motivation bleibt.
Zwei Kilometer
weiter, noch immer auf dem blauen Weg, treffen wir auf die
verschlossene Martinovska Bouda. Nur der Schneepflug steht vor der
Tür. Mittlerweile ist sogar die Sonne vollständig herausgekommen.
Ein Traum. Besser kann es nicht sein, inmitten dieser bezaubernden
Natur. Das gibt noch einmal Schwung für die letzten Kilometer.
Endlich ist die Elbfallbaude auf den Schilder ausgewiesen, 2,5 km nur
noch. Von dort sind es nur noch wenige hundert Meter bis zur
offiziellen Quelle. Ein Energieschub für Körper und Geist. Kräfte
werden freigesetzt. Auch wenn die wenige Meter weiter erneut
strapaziös werden. Es geht bergan, auf schmalen Weg am Berghang
entlang.
Erst jetzt fällt
uns diese Ruhe auf. Man hört nichts, fast wie in einem Vakuum. Kein
Luftzug, kein Rascheln, kein Vogelgezwitscher, keine Menschenseele.
Nichts. Kaum zu glauben. Nur wir. Für uns fast schon unheimlich,
aber unglaublich angenehm und vereinnahmend. Man spürt förmlich
diese innerliche Entspannung. Nichts interessiert außer das eigene
Ich. Selbstfindung.
Die Anstrengung
wächst, noch immer Anstieg. Die Kräfte schwinden. Ein fitter
Wanderer, allein unterwegs, kommt uns schnellen Schrittes entgegen.
Der einzige heute.
Das
Riesengebirge ist die Heimat Rübezahls. Um den Berggeist ranken sich
eine Vielzahl von Sagen, Legenden und Märchen. Er erscheint den
Menschen in verschiedener Gestalt. Als Bergmann, als Mönch,
Handwerker, in Tiergestalt oder als natürlicher Gegenstand. Der
launische Geist bestimmt über das Wetter im Gebirge. Für Regen,
Blitz und Donner ist er verantwortlich. Gegenüber Menschen soll er
meist freundlich sein, hilft Armen. Wanderer wiederum leitet er in
die Irre. Eine gespaltene Persönlichkeit. Seine Geschichten wurden
niedergeschrieben und überliefert. Teilweise geschah das bereits im
16. Jahrhundert. Viele Sammlungen jener Sagen und Legenden sind im
Verlauf der Zeit erschienen, viele umgewandelt worden. Manchmal ist
das wie „Stille Post“.
Als wir es
geschafft haben sehen wir sie, die Elbfallbaude. Wieder einmal müssen
wir Höhenmeter bewältigen, diesmal nach unten. Vorher kommt der
Elbfall. Ein mickriger Wasserfall zu dieser Jahreszeit. Wo sonst die
Wassermassen 40 Meter in die Tiefe stürzen, ist heute nicht allzu
viel davon zu sehen. Nur ein Rinnsal stürzt in die Tiefe.
Gleichzeitig
stehen wir vor der bereits erwähnten Elbfallbaude. Dieser
mehrgeschössige Betonklotz aus Zeiten des Sozialismus, der so gar
nicht in das Landschaftsbild hineinpassen will. 1975 wurde das
Gebäude nach 6 jähriger Bauzeit eröffnet. Die vorherigen Hütte
war einem Brand zum Opfer gefallen. Die Bedürfnisse der Reisenden
waren von nun an befriedigt. Massentourismus eben. Er erfreute sich
großer Beliebtheit. Die Hässlichkeit störte niemanden. Doch das
war einmal, der Glanz verblasste. Heute würde man sie am liebsten
schnellstmöglich weg haben. Eine kleine Baude soll es sein. Doch so
einfach geht das nicht. Aufbau, Abriss, Neubau. Ein aufgabenreiche
Reihenfolge. Millionen von Kronen muss man dafür in die Hand nehmen.
Ein Mammutprojekt. Kann man nur viel Glück wünschen. Zu dieser
Jahreszeit ist er verschlossen. Kein Menschenleben darin zu sehen,
kein Licht brennt.
Ohne Pause
starten wir in das allerletzte Teilstück auf dem Weg zur Elbequelle.
Wie soll es anders sein, bergan. Einen Kilometer nur noch. Nur ist
gut. Auf den ersten Blick ein Klacks. Nach mittlerweile über 8km
Wanderung. Falsch gedacht. Es zieht sich wie Kaugummi. Meter um
Meter. Ein Kampf. Hinzu kommt das Wetter. Vorbei mit eitel
Sonnenschein. Der Nebel ist aufgekommen, bedeckt den Kamm des
Riesengebirges. Es pfeift, es windet, es schneit in feinsten
Rieseln. Genau ins Gesicht. Der Weg ist von den Schneeverwehungen
schwer begehbar, man sinkt teilweise ein. Kräftezehrend.
Nach einer
halben Ewigkeit erreichen wir sie, das Ziel unserer Wandertour durch
das Riesengebirge. In 1346m Höhe. Die Elbequelle, unspektakulär.
Ein kleiner betonierter Brunnen, im Durchmesser knapp ein Meter,
symbolisiert den Ursprung eines der wichtigsten Ströme Europas. Von
ihm bahnt sich, kaum sichtbar, ein kleines Rinnsal in südlicher
Richtung allmählich hinab ins Tal. An einer künstlich geschaffenen
Gesteinsmauer sind 28 Wappen der Elbe-Städte. Jene, die der Fluss in
seinem Verlauf unterwegs durchfließt oder passiert. Teilweise kann
man sie durch das Eis nur schwer lesen. Wir rubbeln sie frei, nicht
alle natürlich. Das würde zu lange dauern. Cuxhaven, Dresden, Bad
Schandau, Hradec Kralove, Wittenberg , Hamburg oder Magdeburg,
Pardubice, Spindlermühle. Nur eine kleine Aufzählung. Kurze Pause,
Zeit für eine rasche Stärkung.
Mittlerweile ist
die Zeit weit vorangeschritten, wir haben es bereits 14.45 Uhr. In
eineinhalb Stunden wird es dunkel. Bis dahin wollen, sollten und
müssten wir in Spindlermühle sein. Nur welchen Weg einschlagen?
Zurück zur Elbfallbaude und dann hinab direkt nach Spindlermühle
oder den Pfad über Horni Mesecky. Wir entscheiden uns für das
zweite. Noch schnell Bilder knipsen, ein wenig Proviant zu uns nehmen
und los geht es. Geradeaus geht es dahin, für einige hundert Meter,
ehe wir kaum unseren Augen trauen können. Die Route führt uns, na
klar, bergan. Langsam beschleicht uns ein ungutes Gefühl, ein Hauch
von Zweifeln macht sich in uns breit, gerade mit dem Blick auf die
Zeit. Mehrmals schauen wir auf die Karte, orientieren uns und kommen
zum Entschluss richtig zu sein. Hilft nichts, weitergehen. Der Nebel
macht es nicht angenehmer. Im Gegenteil, er wird schlimmer. Die
Schutzhütten am Rande des breiten Kammweges scheinen schon manch
Übernachtungsgast willkommen geheißen zu haben, zumindest im
Sommer. Im Winter ist das lebensgefährlich ohne passende Ausrüstung.
Doch Besserung ist in Sicht.
Wir biegen
rechts ab.Von nun an geht es schmal und steinig steil nach unten.
Glücksgefühl macht sich breit. Wir sind erschöpft, haben aber noch
gute 6km zu unserem Ausgangspunkt heute morgen zurückzulegen.
Dennoch ein Lichtblick. Schnell sind wir jetzt. Joggen fast. Trotzdem
melden sich die Füße, schmerzen aufgrund der Belastung. Wir blicken
rechts tief ins Tal. Wieder dieses Bilderbuchpanorama, das
entschädigt.
Wir erreichen
Horni Misecky. Direkt an der Lilemincka-Baude kommen wir heraus. Eine
kleine Siedlung, ein Miniort, mehr ist Horni Misecki. Offiziell
gehört es zu Spindlermühle. Ein Urlaubszentrum in ruhiger Lage. Aus
einiger Entfernung konnten wir bereits die mit Kunstschnee
beschneiten Skipisten sehen. Ein paar Dutzend rutschen die flachen
Hänge herunter. Für Anfänger und Kinder sicherlich ideal, für
Fortgeschrittener eher fad.
Einer führt
direkt nach Spindlermühle hinunter, der Lift bringt sie dann wieder
herauf. In Betrieb ist der nicht, zu wenig Schnee. Sonst hätten wir
den nutzen können, es wäre eine Erleichterung gewesen. So müssen
wir quer über die Skipiste und noch die restlichen drei Kilometer
hinter uns bringen. Der Weg wird matschiger, Schnee ist kaum
vorhanden in dieser „Tiefe“. Die Füße, die Beine, der gesamte
Körper schmerzen von der Anstrengung. Der Kopf ist ausgeschaltet,
die Beine funktionieren automatisch. Mittlerweile ist es dunkel, nur
noch wenige hundert Meter. Die wollen nicht vergehen. Ungefähr 5
Stunden haben wir für den Marsch gebraucht. Überglücklich
erreichen wir das Auto. Noch einmal erinnern wir uns, wie wir heute
Morgen in den Bus zur Spindlerbaude gestiegen sind. Die Anstrengungen
des Tages sind im Kopf fast vergessen, nur der Körper erinnert uns.
Was für ein Erlebnis-unbeschreiblich-unvergesslich!
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