Der Weg führt uns heraus aus der
Altstadt. Über die Brücke auf die andere Uferseite der Weichsel. Es
geht in den Stadtteil Podgorce. Im 18. Jahrhundert wurde die damals
eigenständige Stadt eingemeindet. 1941 wurde in jenem Viertel das
Ghetto Krakaus eingerichtet.
Wir biegen links ab. Hinein ins
Industriegebiet. Fabriken und Bürogebäude begegnen uns. Wenig
spektakulär, wenig ansehnlich. Das ändert sich.
Schindlers Fabrik. Historischen Boden
betreten wir. Jeden kennt den Film „Schindler's Liste“. Vom
Star-Regisseur Steven Spielberg 1993 in Schwarz-Weiß gedreht. Jeder
kennt diesen Oscar-prämierten Weltfilm, jeder hat ihn gesehen. Oskar
Schindler, ein deutschmährischer Großindustrieller, anfangs nur
nach dem Profit aus, rettet 1200 Juden vor dem Tod, in dem er sie in
seiner Emaillefabrik, sie produziert Geschirr wie Töpfe und Pfannen
für den Kriegsbedarf, als Arbeiter beschäftigte. Fabryka Emailia
Oskara Schindlera. Heute befindet sich im ehemaligen
Verwaltungsgebäude ein staatliches Museum. Das restliche
Fabrikgelände samt Lager ist nicht erhalten.
Wir gehen hinein. Von außen macht das
langgestreckte Gebäude einen modernen Eindruck. Ist es auch. Das
Museum wurde erst 2010 eröffnet. Zuvor war es in
privatwirtschaftlicher Hand. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
wurde die Fabrik verstaatlicht. Telekommunikationsanlagen wurden
produziert. 3,7 Millionen Euro hat man in die Sanierung und in die
Dauerausstellung investiert. Das Resultat beeindruckt. Schonungslose
Geschichte.
5 Minuten später sind wir drin.
Unbedarft, ohne zu wissen, was uns erwartet. Der Zweite Weltkrieg
klar, das Ausmaß aber nicht. Über zwei Stunden werden wir in den
Räumlichkeiten verbringen. Am Ende sind wir erschlagen von den
Informationen und der Visualisierung.
Alles beginnt mit dem vermeintlich
triumphalen Einmarsch Hitlers in Österreichs und der Annektion an
das Dritte Reich. Durch Ferngläser kann man aneinandergereihte
Bilder, Berichte und Kurzfilme sehen. An den Wänden hängen Plakate
der damals vorherrschenden politischen Landschaft. Noch nichts
besonderes. Das ändert sich. Der Gang durch ein verzweigtes
Labyrinth auf drei Stockwerke beginnt nun. „Krakau unter der
deutschen Besatzung 1939-1945“ ist das Thema. Doch es ist vielmehr
als harte Fakten. Es ist die schonungslose Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus, die schockierende Verdeutlichung der Gräueltaten
der Hitler-Schergen und das daraus resultierende Leid. Station für
Station. Die Räumung der Universität, die Sonderaktion Krakau, die
Einrichtung des jüdischen Viertels oder die Befreiung durch die Rote
Armee. Dabei arbeitet man mit Symbolen, Parolen, Bekanntmachungen,
Plakaten und Material, das bei uns in Deutschland strengstens
verboten ist. Die Szenerie versetzt man nahezu 3D-getreu in die
damaligen Schauplätze. Der Besucher ist mittendrin. Raumfüllende
rote Fahnen mit Hakenkreuz hängen in dem Gang, sodass man sie
beiseite schieben muss, um weiter gehen zu können. Auf den weißen
Fliesen, weiß die Farbe der Unschuld, sind die Hakenkreuze
hundertfach nebeneinander angeordnet. An den Litfaßsäulen sind
Szenen aus dem besetzten polnischen Krakau. Räume erhielten Namen
der Straßen und Plätze Krakaus. Ganze Straßenzüge wurden
nachgeahmt. Die Straßenbahn geschickt integriert. Kriegsmaschinen
sind zur Schau gestellt. Ob sie aus jenen Zeiten stammen, bleibt
fraglich. Die Originalität aller Exponate ist verblüffend. Immer
wieder hängen Portraits von Menschen an der Wand. Durch sie erhält
das Leid, das Schicksal und die Geschichte ein Gesicht. Kleinste
Details aus dem Alltagsleben in der Besatzungszeit werden
dargestellt. Vom Bahnhof bis zum Frisörladen. Anhand von
ausgewählten Figuren aus dem Krakauer Alltagsleben während der
Okkupationszeit werden die zeitlichen Abläufe und die damit
verbundenen Schicksale uns näher gebracht. Die Nazi-Propaganda
visuell geschildert. Die Zerstörungen, Vertreibung der Juden, das
Zusammentreiben im Ghetto, das Leben im Arbeits- bzw.
Konzentrationslager von Plaszow und Auschwitz. Alle Eckpunkte umfasst
die Ausstellung. Deren Aufbereitung ist fantastisch bis unglaublich.
Fotos, Plakate, Hörtexte und Filme verschaffen Kurzweiligkeit. Sie
erfassen uns, sorgen für Gänsehautmomente der negativen Art. Die
Demut, die Schuld beschleicht mich als deutschen Staatsbürger. Die
breite Palette der modernen und technischen Möglichkeiten wird
ausgeschöpft.
Eines kommt leider zu kurz. Ein
Wermutstropfen. Die Geschichte des Hauses und der Fabrik der
Emaillefabrik Oskar Schindler. Nur zwei Räume sind dieser Thematik
gewidmet. In einem ist das Chefbüro Schindlers mit Schreibtisch und
sonstiger Büroeinrichtung untergebracht, im Raum nebenan sind die
Pfannen, Töpfe und das Geschirr, welches großteils aus Aluminium
produziert wurde, in einem überdimensionalen Glaskasten wild
durcheinander gewürfelt. Die Namen der Beschäftigten, zugleich der
Geretteten, hängen an der Wand. Jeder kennt den bekanntesten unter
ihnen. Izhak Stern, der Fabrikleiter, der Oskar Schindler Kontakte zu
jüdischen Organisationen und Geldgebern verschaffte.
Ein beeindruckendes Museum, das jede
Möglichkeit der Visualisierung und Darstellung harter Fakten auf
verschiedenste Art nutzt. Geschichtsunterricht eben. Der Besucher
wird direkt konfrontiert, ohne Umschweifungen, ohne Kompromisse.
Demut erfasst uns. Als Deutscher fühlt man sich immer schuldig. So
erging es uns bereits in Auschwitz. So auch jetzt im Museum
Schindlers Fabrik.
Erst jetzt bemerken wir das Museum
nebenan. Das MOCAK. Für Kunstliebhaber ist es ein Paradies. Über
10000 m² Ausstellungsfläche erwarten den Besuchern. Sechs Gebäude
stammen aus der ehemaligen Emaillewarenfabrik Oskar Schindlers, die
zu einem hochmodernen Museum umgebaut wurde. Polnische Kunst, vor
allem aus der jüngeren Vergangenheit, kommen in den Räumlichkeiten
zum Tragen. Nicht unser Ding. Der Schock aus der Fabrik Schindlers
ist uns noch im Kopf. Für einige Stunden wird es uns nicht los
lassen.
Nur noch Erinnerungen ans Gehttoviertel
Podgorce.1941 wurde nach der Eroberung Polens beschlossen, eine jüdische Wohnsiedlung anzulegen. Ein Ghetto. Alle Juden aus Krakau mussten innerhalb kürzester Zeit umziehen. 15000 Menschen waren zusammengepfercht. Vorher lebten 3000 Menschen im Stadtteil Podgorce. Die dort vorherrschenden Verhältnisse kann man sich vorstellen. Es war hermetisch vom Rest der Stadt abgeriegelt. Eine Mauer umgrenzte extra das Gebiet, die SS bewachte. Nichtjuden war das Betreten untersagt. Monate später wurde es nochmals unterteilt. Ghetto A und B. Kriterium war die Arbeitsfähigkeit. Vorbereitung für die endgültige Deportation in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Das Schicksal war vorbestimmt.
Zentrum des Lebens im Ghetto war der
Platz der Einheit. Heute heißt er anders, angemessener. Platz der
Ghettohelden. Ein Mahnmal heute. Leere Holzstühle, größer als die
allseits bekannte Norm, sind quer über dem Platz verteilt. An der
nordöstlichen Ecke steht ein besonderes Gebäude. Die „Apotheke
unter dem Adler“ war die einzige ihrer Art im Ghetto. Besitzer war
ein gewisser Tadeusz Pankiewicz. Der war die Ausnahme der Ausnahme.
Nämlich der einzige Nichtjude. Sie war aber mehr als bloß eine
Apotheke. Sie war eine Anlaufstelle, ein Treffpunkt für alle Juden
im Ghetto. In der heutigen Zeit ist ein historisches Museum
untergebracht, in dessen diese Thematik in vielen Sprachen zur
Geltung kommt. Über die Straßen Piwna und Josefinska gelangen wir
zum Rynek des Stadtteils. Ein großer Platz, eine große Baustelle.
Der Belag wird runderneuert. Am Ende liegt die große evangelische
Kirche, die alles überragt. Menschen gehen hinein und wieder heraus.
Ein gläubiges Volk, die Polen.
Ein lebendiges Viertel, dieses
Podgorce. Lebendiges Alltagsleben, das typisch ist für diese
dynamische Stadt. Von den vergangenen Grausamkeiten, vom Leben der
Juden im Ghetto sind nur noch verhältnismäßig winzige
Äußerlichkeiten erhalten. Deutsche Namen ehemaliger
Handwerksbetriebe an den Hausfassaden zum Beispiel. Die Menschen
wuseln auf den Gehsteigen, warten auf die ratternde Straßenbahn.
Jung und Alt. Langsam nähern wir uns wieder der Weichsel. Damit
deren Überquerung. Die Most Pilsudskiego verbindet Podgorce mit dem
Kazimierz. Dort, wo wir unsere Tour heute begannen.
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