90km stehen auf unserem Plan. Von
Krakau in den südlichsten Zipfel Polens, nach Zakopane. 90Km durch
hügeliges Terrain. Durch ländliche Gegend, durch die Provinz. In
die Kultur der Goralen.
Raus geht es aus Krakau. Mit Wehmut.
Die Stadt hat uns geflasht, tief beeindruckt. Für uns zählt sie zu
den Top 10 der europäischen Geschichte. Jeder wird wieder kommen
wollen. Wir auch.
Auf der vierspurigen Schnellstraße
fahren wir hinaus, an den Vororten mit den Plattenbauten vorbei.
Riesige Einkaufcenter links und rechts fügen sich nahtlos ein.
Pulsierend sind die Menschen unterwegs, ob mit Auto, Straßenbahn
oder Bus. Die gängigsten europäischen Unternehmen sind vertreten.
Kilometerweit sehen wir kein Grün, nur Beton. Wieliczka ignorieren
wir heute, dem Salzbergwerk haben wir bereits unsere Stippvisite
abgestattet. Also folgen wir der Straße und den Anweisungen des
Navis. Bald sind wir auch aus den Randbezirken draußen. Der Verkehr
wird flüssiger, die Fahrzeuge weniger.
Myslenice ist der erste größere Ort
den wir am Rande passieren. Eine Kleinstadt. Das Gewerbegebiet an der
Bundesstraße. Mittelständische Unternehmen haben sich angesiedelt.
In die Innenstadt sehen wir nicht. Bürgerfreundlich führt die
Kraftfahrstraße um Myslenice herum. Wir sind jetzt ungefähr 30km
südlich von Krakau. Die Region wird ländlich, die grüne Natur
übernimmt das Zepter, die Städte und Dörfer fügen sich in ihr
ein.
Die Hügellandschaft der auslaufenden
Beskiden ist bereits vor uns, die Silhouetten der Hohen Tatra bei
genauerem Hinsehen bereits zu erahnen. Dementsprechend geht es hoch
und runter auf kurvenreicher Strecke. 90 km/h haben wir auf dem
Tacho, schneller dürfen wir nicht fahren. Städte wie Lubien, Pcim
oder Skolmiena Bial fliegen an uns vorbei. Die Wälder der Beskiden
ebenso.
Einen Abstecher haben wir uns auf den Plan geschrieben. Den nach
Kalwaria Zebrzydowska. Kaum auszusprechen. Von der
perfekt ausgebauten, vierspurigen Bundesstraße sind wir rechts
abgefahren. 10km durch die Prärie. Kalwaria Zebrzydowska liegt in
der Mitte zwischen Wadowice, der Stadt, in der der große Papst
Johannes Paul II geboren wurde, und dem Ort Glogoczow.
4500 Menschen leben in der
Kleinstadt, in der es nur einfaches Leben gibt. Beinahe autark meint
man. Unspektakulär eben, abseits von jeglichen Trubel, die Sekunden
schlagen ein wenig langsamer. Viel gibt es hier nicht, nur die
Gemeinschaft und sich selbst. Und die Natur, die Ruhe.
Zu verdanken ist die Gründung des Ortes einem
gewissen Mikolay Zebrzydowski, der auf dem Berg Zarek eine Kirche
bauen ließ. Ganz nach der Golgota-Kapelle aus dem heiligen
Jerusalem. Ein Bernhardinerkloster entstand zuerst, danach nach und
nach Kirchen und Kapellen. Meist auf den umliegenden Bergen. Die
erhielten Namen: Ölberg, Ziom oder Golgota. Der Fluss im Tal wurde
Cedron getauft. Benannt nach den jerusalemischen Vorbildern. Anstoß
für Zebrzydowski waren die Schriften Adrichomius, der das Heilige
Land und das Leben Jesus Christus detailliert beschrieb. Für ihn war
die Ähnlichkeit der Topographie zu Jerusalem verblüffend. Für ihn
war sofort klar, hier, am Rand der Beskiden die göttliche Geschichte
samt Kreuzigungsweg vollständig nachzuempfinden. Palast des Pilatus,
Ölberg, letztes Abendmahl oder die Last des Kreuzes sind nur einige
Beispiele jener Motive. Sein Sohn Jan setzte das Lebenswerk fort.
Dessen Sohn ebenfalls.So kamen 40 Kapellen, Kirchen und religiöse
Bauten in der unmittelbaren Umgebung zusammen. Ein ganzer Komplex
voller Individualität, Originalität und der Liebe zu Jesus
Christus. 30 Jahre benötigten sie dafür.
Im Laufe der Jahrzehnte
wurden immer wieder bauliche Veränderungen vorgenommen bzw. wieder
korrigiert. 1999 wurde das Franziskanerkloster in die Liste des
UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Es ist eine der meistbesuchten
Pilgerstätten Polens, eine mit der interessantesten Geschichte
dahinter.
So
recht wissen wir nicht, wo wir hin müssen, sind auch nicht mit
spezifischen Hintergrundinformationen geimpft. Der Kalwarienberg mit
der Kirche ist bereits aus der Ferne zu sehen. Daran orientieren wir
uns, dort kommen wir Minuten später an. Wer gedacht hat, uns
erwartet ein Prunk- und Prachtbau, der täuscht. Wir stehen vor einer
Kirche, eigentlich nichts Außergewöhnliches. Keine spezielle
Architektur. Nichts besonderes. Wir sind enttäuscht, haben uns mehr
erwartet. Der Blick in die weite grüne und hügelige Landschaft in
Richtung Süden ist bemerkenswert. Bemerkenswerter als das
Gotteshaus. Die überdimensionale Statue des Papst Johannes Paul II.
ist dabei nur nebenbei zu nennen. Sie ist mittlerweile obligatorisch.
Ein Informationszentrum oder eine Landkarte finden wir nicht,
probieren es anschließend noch einmal im Ort. So richtig werden wir
nicht fündig. Wir glauben, uns geirrt zu haben. Es muss noch ein
anderes Kalwaria Zebrzydowska existieren. Hinterher bestätigt sich
diese Einschätzung nicht, im Gegenteil. Wir waren richtig,
vielleicht nicht am Pilgerzentrum. Jedoch in der Stätte und somit
Besucher einer göttlichen Anlage voller religiöser Glaubenskraft.
Zurück auf der Tangente
Krakau-Zakopane. Es geht langsamer voran. Der Verkehr wird
zähflüssiger. Kein Wunder, die Straße sind von insgesamt vier auf
zwei Fahrbahnen reduziert. Die Lkws quälen sich die Berge hinauf.
Rabka Zdroj ist der nächst größere
Ort. Ein Kurort dazu, besonders für Kinder. Auf den ersten Anschein
eine gewöhnliche Kleinstadt, nichts ist von Kuranlagen und
-einrichtungen zu sehen. Kliniken, Sanatorien und Heilanstalten
scheinen dennoch zu existieren. Dabei ist er seit 1864 als Heilort
bekannt. Also traditionsreich. Die Solequellen machen es möglich,
das Mineralwasser scheint auch seine heilende Wirkung nicht zu
verfehlen. Früher, im Mittelalter, wurde im Ort das Salz abgebaut,
ehe die Entwicklung zum Kurort für Herz-, Kreislauf- und
Atemwegserkrankungen einsetzte. Speziell zum Kinderkurort. Hinzu
kommt die Umgebung, die Natur. Ein Pluspunkt. Die Nähe zum
Nationalpark und zum Gebirge, die große Fläche an bewaldeten Zonen
sorgen nicht nur für ein gesundes Luftklima, sondern ist
Ausgangsstation für Aktivitäten für Touren und Ausflüge. Eine
Besonderheit hat Rabka Zdroj noch, das Puppentheater genießt große
Anerkennung.
Wir durchfahren die Podhale, das
polnische Hochland nördlich der Hohen Tatra. Der Gorce-Nationalpark
streifen wir linker Hand seit einiger Zeit. Er konzentriert sich
hauptsächlich um das Gorce-Gebirge, einem Teil der Beskiden. Sanfte
Berge, langgezogener Höhenkamm, steil abfallende Felsen,
spektakuläre Aussichtspunkte. Vielfältige Charakterzüge bestimmen
das Landschaftsbild, das hauptsächlich von Wäldern bedeckt ist.
Braunbären, Luchse, Wildschweine, Hirsche und Bussarde, Eulen sind
die vorherrschenden Tiere im Nationalpark.
Die Goralen prägen mit ihrer Tradition
und Folklore die Region, legen noch heute besonderen Wert auf das
Ausleben ihrer Kultur. Wenn auch teilweise zu Tourismuszwecken. Die
Schnitzwerke an ihren typischen Holzhäuser sind ein äußerliches
Charakter- und Alleinstellungsmerkmal. Der Oscypek ist so ein Produkt
dieser interessanten Bevölkerungsgruppe. Seit Jahrhundert wird der
Hartkäse von ihnen aus Schafsmilch hergestellt, zur Eigenversorgung
und zum Verkauf.
Bis Zakopane ist es nicht mehr weit.
Allmählich zieht es sich. Die Dämmerung setzt langsam ein, es geht
16 Uhr entgegen. Da ist dunkel. Nowy Targ, mit 30000 Einwohnern, ist
die Hauptstadt des polnischen Hochlandes. Die beiden Flüsse des
Dunjajec, der Schwarze und der Weiße, fließen hier zusammen. Die
Industrie bestimmt das Geschehen in der Stadt. Nowy Targ ist bekannt
für die Bauernmärkte, auf denen Händler oder Privatleute sämtliche
Waren verkauft werden. Dinge des täglichen Bedarfs, Obst, Gemüse,
Textilien, Möbel oder sogar Tieren werden angeboten. Schnäppchen
sind garantiert.
Prunkvolle und prächtige Bauten sind
eher die Seltenheit. Einzig zwei Kirchen ragen heraus. Die Holzkirche
St. Anna und die barocke Katharinenkirche. Die Gotteshäuser, nicht
die beiden, waren Anlass für die Gründung Nowy targs, dass ins
Deutsche Neumarkt übersetzt wird. Deutsche Kolonisten bevölkerten
die Stadt, die das Gros Nowy Targs stellten. Walddeutsche wurden sie
genannt. Sie sorgten für die waldhufenähnlichen Dörfer und
Siedlungen im gesamten Gebiet der polnischen Karpaten. Spuren finden
sich noch heute in manchen Familiennamen wieder, die den deutschen
ähnlich klingen.
Schnell lassen wir das unspektakuläre
Nowy Targ hinter uns, bis Zakopane sind es nur noch wenige Kilometer.
Unser Ziel des heutigen Tages. Die Dunkelheit hat zwischenzeitlich
Einzug gehalten. Damit brechen der Abend an und läutet für uns den
Ausklang einer Übergangsetappe ein.
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