08 Juni 2015

Das Lagertor kennt jeder (Teil 9)

Auschwitz-Birkenau. Nur drei Kilometer entfernt. Wir befinden uns im Gemeindegebiet von Brzezinka, zu deutsch: Birkenau.


Das Gebäude, durch den die Deportationszüge eingerollt sind, ist weltbekannt. Jeder kennt davon Bilder oder Filmaufnahmen. Nur mit der Realität nicht vergleichbar. Viel grausamer. Fast Schockstarre bei uns.
Das Gelände ist riesengroß, beinah untertrieben. 175 Hektar. Es sprengt jegliche Vorstellungen. Das Ende kann man schwerlich erkennen. Unglaublich, wirklich.
Der Großteil der Baracken steht gar nicht mehr, 300 waren das einmal. Nur noch die Umrisse, die Kamine und Schornsteine davon sind übrig geblieben. Die aber zu tausenden.

Das Lagertor ist das Sinnbild für das komplette Areal des Vernichtungslagers Auschwitz. Dieses Gebäude ging und geht um die Welt. Jeder verbindet es mit dem größten Lager zur Ermordung Millionen von Menschen durch die Nationalsozialisten. 1941 wurde es auf Befehl von Heinrich Himmler aus dem Boden gestampft. Dorfbewohner mussten dafür ihre Häuser verlassen. Zunächst war es für 100000 sowjetische Kriegsgefangene gedacht, sollte sogar nur eine Art Arbeitslager sein. Doch es kam anders. Allmählich entwickelte es sich zum Vernichtungslager. Bis 1944 kamen die Häftlinge nach tagelangem Transport in Güterwaggons im Bahnhof Auschwitz an. Unter menschenunwürdigen Bedingungen wurden sie die drei Kilometer ins Lager getrieben. Viele überlebten das, durch die Schwächung der Reise, nicht. Danach wurde das Gleis direkt in das Lager gebaut. Direkt in den Tod. Es läuft uns schaurig den Rücken hinunter. Wir haben Gänsehaut und spüren ganz viel Demut in uns. Irgendwie auch Schuld, als Deutscher.

Nach dem Tor gehen wir zuerst nach rechts. Außen fahren die Autos auf der Landstraße selbstverständlich vorbei. Nur der drei Meter hohe, doppelte Stacheldraht dazwischen. Einige Musterbaracken stehen an dieser Stelle, die man betreten darf. Fluchtversuche waren quasi unmöglich. Einige schafften es dennoch, wie durch ein Wunder. Klappte das nicht, war es der sichere Tod für sich selbst und für andere Mithäftlinge. Eine Handvoll Baracken sind auf dieser Seite noch erhalten. Zwei von ihnen stehen zu Besichtigung zur Verfügung. Im Inneren stockt uns der Atem. Der Wind pfeift durch das Ziegelmauerwerk. Es ist kaum geschützter wie draußen. Nur der Kamin könnte wärmen. Massen an Häftlingen lebten in so einer Baracke. Zu fünft in einem Bett, auf dem Boden aneinandergereiht, beinahe übereinander. Grausam. Hinter jenen Baracken blicken wir über endlose Schornsteine und Kamine hinweg. Das Ende ist gar nicht sichtbar. Das macht uns Angst.






Wir laufen wieder zum Gleis zurück, der zentralen Marginallinie. Das omnipräsente Lagertor hinter uns im Rücken. Immer wieder drehen wir uns um.. Links und rechts waren die Häftlingsbaracken. Ungefähr in der Mitte steht ein Waggon. Ein Güterwaggon, aus jenen Zeiten, in denen die Deportierten transportiert wurden. Viele überstanden schon gar nicht die Überfahrt.Ohne Wasser, ohne Essen, eingepfercht mit hunderten Leidensgefährten kein Wunder. Erneut biegen wir nach rechts, über die Gleise. Ein holpriger, unbefestigter Weg führt geradeaus. Links und rechts massive Stacheldrahtzäune. Eine Rose steckt darin. Eine verwelkte. Ganz allein. Irgendwie sinnbildlich, ein Bild mit melancholischen Symbolcharakter. Das gute vergeht, das grausame bleibt in Resten immer erhalten, so könnte man es fast interpretieren. Dahinter sind die,bereits erwähnten, übrig gebliebenen Schornsteine der Unterkunftsbaracken. Die Umrisse sind noch deutlich zu sehen. Links wie rechts. Hunderte.




Zurück auf bzw. an den Gleisen. Das Lagertor entfernt sich mehr und mehr von uns. Eine Fotostrecke machen wir. Alle 50, 60 oder 100 Meter schießen wir ein Bild. Körperlich entfernt es sich, die Wirkung bleibt, verstärkt sich eher mit zunehmender Entfernung.

Am Ende der Ausladerampe treffen wir auf das monumentale, internationale Mahnmal. 1967 wurde es zur Erinnerung an die Opfer des vernichtenden Faschismus feierlich eröffnet.Vor allem die betroffenen Nationen wie Großbritannien, Frankreich, Spanien, Polen, Griechenland, Ungarn und das schuldige Deutschland würdigen mit verschiedenen Gedenktafeln und Inschriften den getöteten Menschen. Der Blick vom Mahnmal zum Lagertor. Peripher links und rechts die Baracken und ihre Überbleibsel. Gänsehaut. Beklemmendes Gefühl.

Rechts und links treffen wir nun auf jeweils eine zusammengebrochene Ruine. Die Gaskammern und Krematorien des Lagers. Die Nazis sprengten sie vor der Eroberung der roten Armee. Teilweise taten das auch jüdische Häftlinge nach der Befreiung. Nichts wurde an ihnen seit den 50er Jahren verändert. Die übrig gebliebenen Mauern verfehlen nicht ihre Wirkung. Ursprünglich waren
es vier Krematorien, die im ersten Halbjahr 1943 in Betrieb gingen. Im Untergeschoss waren die Gaskammern installiert. Die Umrisse und die Anordnung sind erhalten. Millionen von Menschen starben in den Kammern. Statt Wasser kam Gas mit tödlicher Wirkung aus den Brausen an der Decke. Grausame Vorstellung.



Das Ende unseres Rundweges ist noch lange nicht in Sicht. Eine neugierige, kleine Asiatin begleitet uns die ganze Zeit. Genauso wissensdurstig wie wir. Nur sie hat das iPhone, wir die Kamera zum knipsen. Sie fotografiert alles, jedes Schild, jede Tafel. Minutiös. Zur Nachbetrachtung wahrscheinlich.

Wieder geht es rechter Hand weiter. Um das eingestürzte Krematorium herum sehen wir bereits die nächsten Mauern und Gebäude. Die Ziegelsteinmauern in runder Form waren zu Zeiten des Konzentrationslager eine Art riesiger Wassertank. Wasser war im Lager Mangelware. Fließendes gab es nicht. Katastrophale Zustände waren die Folge. Hygiene gab es nicht, die sanitären Verhältnisse waren menschenunwürdig, damit nicht vorhanden. Eine riesige Plagean Ratten verschärfte die Gesamtsituation. Krankheiten, Infektionen bedeuteten den Tod durch Erschießen oder durch die Gaskammern. Eigens dafür wurden zusätzlich in Bauernhäusern Gaskammern installiert. Mörderische Maschinerie.


Mittlerweile sind wir im hinteren Bereich des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Direkt vor der „Sauna“. Dem Gebäude, in der die Menschen nach ihrer Ankunft und Sektion endgültig ihr Menschenwürde verloren. Entkleidungs- und Desinfektionsanlage war die offizielle Bezeichnung. Es ist das größte Gebäude in Auschwitz-Birkenau. 1943, im Dezember, wurde es in Betrieb genommen. Heute, nach aufwendiger Rekonstruktion, ist es als Dauerausstellung für die Besucher frei begehbar. Seine Wirkung im Inneren verfehlt sie nicht. Wir gehen auf einem schmalen Gang, Geländer trennen uns vom original erhaltenen Betonuntergrund, durch die offenen Räume, quasi auf jenem Boden, denen 70 Jahre zuvor Millionen von Menschen hinter sich bringen mussten. 90 % fanden den Weg in den Tod. Die Räumlichkeiten sind original nachempfunden. Entkleidung, nackter Körper bedeutet auch nackte Seele. Duschen, Reinigung. Manchmal heiß, manchmal kalt. Unter Beobachtung der Wachmannschaft natürlich. Anschließend Häftlingskleidung und Schuhwerk. „Zivilkleidung“ der Deportierten und die Häftlingsklamotte sind schonungslos ausgestellt. Von Abteilung zu Abteilung gelangen wir. Über den Durchgängen steht der Name der jeweiligen Traktion am Menschen. Haarschneideraum zum Beispiel. Das Schockierenste kommt nun. Die Enthaarung. Das Gleichmachen aller Häftlinge. Das Brechen des letzten Funken von Stolz und Ehre in ihren Seelen. Egal, ob Mann oder Frau. Auf unangenehmster Weise wurde ihnen die Haare mit den Messer geschoren. Teilweise mit heftigen Verletzungen. Haare, Berge von Haaren liegen hinter der Glasscheibe übereinander. Ein Grauen. Die Leere der Räume, die unverputzten Wände, das Minimalistische. Extrem bedrückend.


Die Tortur hatte jedoch noch kein Ende. Folter. Physisch wie psychisch. Besonders die Juden hatten eine Zwischenstation zu absolvieren. Erneute Selektion bei den Lagerärzten der SS. Arbeitsfähig oder nicht? Geeignet für absurdeste Experimente? Fiel die Bewertung negativ aus, war der Weg in die Gaskammer geebnet.
Mit der Registrierung, die Erfassung persönlicher Daten auf eine Art Personalstammdatenblatt der Nazi-Zeit, setzte sich die endlose Prozedur fort. Die Krönung ist die Tätowierung der Häftlingsnummer zur Identifizierung. Eine Kennzeichnung für das Leben, für alle Überlebenden. Nur in Auschwitz gab es diesen Vorgang. Nach Abschluss wurden die nun gebrochenen Menschen, die nur noch ums Überleben kämpften, in ein Quarantänelager oder direkt in die Häftlingsbaracken verfrachtet. Ohne Worte. So ergeht es uns in der Sauna. Tiefe Demut.

Vor dem Gebäude wieder diese Ruinen der ehemaligen Baracken. Das Bild bleibt. Krematorium 5 und 6 stehen ebenfalls nicht mehr. Sie wurden während des Häftlingsaufstandes 1944 von Juden gesprengt.

Es sind auch die Kleinigkeit, die diese Völkermordmaschinerie so unglaublich entsetzlich macht. Die Abflüsse, die Entwässerungsgräben, die Massengräber sowjetischer Kriegsgefangener oder die Teiche, in denen die Asche der Verbrannten geschüttet wurde. Dem Besucher bleibt keine Zeit zu Erholung. Jede Sekunde wird er konfrontiert. Das setzt sich fest.

Zurück am Denkmal. Die Befreiung


Cameron, der britische Premier, den wir vorhin bereits an der Todeswand in Auschwitz I gesehen haben, stattete auch dem zweiten Lager einen kurzen Besuch mit Kranzniederlegung ab. So schnell er kam, so schnell verschwand er wieder. Automatisch schielen die Augen zum Lagertor. Wie einprägsam.

Auschwitz-Birkenau gilt als verheerendstes Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Das liegt vor allem an der Masse der Getöteten. Mit Abstand wurden in Auschwitz die meisten aller Menschen im Konzentrationslager ermordet. Millionen. Nur Mauthausen konnte da mithalten. Die Lage gibt ihr übriges hinzu. Mitten in der Prärie setzte man eine Tötungsmaschinerie sondersgleichen in Gang. Es zieht. Der Wind pfeift. Die Kälte schleicht in die Knochen.



Wir gehen nun zur anderen Seite, an dem zweiten, gesprengten Krematorium vorbei. Wir gelangen zu den Wohnbaracken der Häftlinge. Die Hälfte von ihnen ist zugänglich. Geschlechter wurden strikt getrennt. Ebenso gab es ein Judenlager, eines für Sinti und Roma oder das theresienstädter Familienlager.
Einige Ziegelsteinwände müssen mit Hilfe von Holzkonstruktionen gestützt werden. Sie sind ohne Fundament gebaut worden. Einfach auf den sumpfigen Untergrund gestellt und gut. Das Innere schockiert. Grausame Zustände, grausame Bedingungen, in denen die Häftlinge hausen mussten. Fußboden gab es nicht, festgestampfte Erde verwandelte sich in Morast. Das musste reichen.
Doppelstockbettenartige Holzbetten, die verfaulten und schimmelten. Das Holz war morsch. Teilweise mussten bis zu zehn Leuten darin zusammenpferchen. Bis zu 400 in einer Baracke.
Horror. Aber was war schon nicht Horror in jenen Zeiten?!
An den Wänden ist noch zu lesen:"Seid ruhig!". Aufforderung der Wärter. Wir sind es auch, für einige Zeit.






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